Damian Müller | Ständerat

Vollzeitarbeit soll steuerlich belohnt werden

  • 20. September 2023
  • 6 min Lesezeit

Der FDP-Ständerat Damian Müller will einen Steuerbonus für alle, die 100 Prozent arbeiten. Dies soll die 10-Millionen-Schweiz verhindern. Von Albert Steck in der NZZ am Sonntag vom 17. September 2023

Die Debatte um das Arbeitspensum ist emotional aufgeladen. Schnell ist von Teilzeit-Bashing die Rede. Trotzdem lanciert Damian Müller den Vorstoss, Vollzeitarbeit steuerlich zu belohnen. Sticht er damit nicht in ein Wespennest? «Dieses Risiko nehme ich in Kauf», sagt der Luzerner FDP-Ständerat. Seinen Weckruf jedoch platziere er ganz bewusst.

«Alle warnen derzeit vor der 10-Millionen- Schweiz und den Problemen, die für unser Land daraus entstehen. Kaum jemand aber redet offen darüber, wie wir das verhindern können: Es führt kein Weg daran vorbei, dass wir im Inland das Arbeitspotenzial besser ausschöpfen müssen.» Besonders die SVP klage zwar gegen die Zuwanderung. Dennoch biete die Partei keine Rezepte gegen den Mangel an Fachkräften, kritisiert Müller. «Ehrlicherweise müsste die SVP reinen Wein einschenken, dass uns die Beitragszahler fehlen, um die künftigen AHV-Renten der Babyboomer zu finanzieren.» Jedes Jahr gehen viel mehr Erwerbstätige in Pension, als Junge nachrücken. Bis im Jahr 2025 wird die Zahl der unbesetzten Stellen auf über 300 000 wachsen, wie das Gottlieb-Duttweiler-Institut errechnet hat. Unter der Annahme, dass keine ausländischen Arbeitskräfte zuwandern, würde diese Lücke bis 2030 sogar auf 800 000 Stellen ansteigen.

«Wer Vollzeit arbeitet, leistet somit einen wichtigen Beitrag, um eines der drängendsten Probleme der Schweiz in den Griff zu bekommen», betont Damian Müller. Als Beispiel verweist er auf den Lehrermangel: Dieser hat schon jetzt dazu geführt, dass allein in den Kantonen Bern und Zürich 1500 Personen ohne Diplom unterrichten.

Gemäss dem Bildungsbericht Schweiz liesse sich die Personalknappheit jedoch beseitigen, indem sämtliche Teilzeitbeschäftigten ihr Pensum um 10% erhöhen. Lediglich 28% der Lehrpersonen arbeiten laut Statistik Vollzeit, was einem Pensum von mindestens 90% entspricht. Der gleiche Trend lässt sich in der gesamten Arbeitswelt beobachten: Arbeitete vor 50 Jahren erst jede zehnte Person Teilzeit, so sind es heute bereits vier von zehn. Begünstigt wurde der Vormarsch der Teilzeit durch die zunehmende Erwerbstätigkeit der Frauen. Seit einigen Jahren arbeiten auch Männer vermehrt in einem reduzierten Pensum.

Weniger arbeiten spart Steuern

Hier kommt ein weiterer Faktor ins Spiel: das Steuersystem. Denn die progressiven Steuertarife können ein 100%-Pensum unattraktiv machen. Am Beispiel einer ledigen Person, die in Bern wohnt: Bei einem steuerbaren Einkommen von 100000 Fr. muss sie ganze 24 000 Fr. an den Fiskus abliefern. Senkt sie das Pensum dagegen auf 80%, so verdient sie zwar 20 000 Fr. weniger, zahlt dafür aber nur 18 000 Fr. an Steuern.

Das heisst: Für 20% weniger Arbeit muss sie nach Abzug der Steuern bloss auf 13% des Lohns verzichten. Bei einem 60%-Pensum halbiert sich die Steuerlast sogar. Zudem kann ein tieferes Pensum bewirken, dass man von vergünstigten Krankenkassenprämien oder von tieferen Tarifen in der Kita profitiert.

«Unser Steuer- und Sozialsystem stammt aus einer Zeit, als Vollzeitstellen die Norm waren», sagt Marius Brülhart, Ökonomieprofessor an der Universität Lausanne. «Zudem sind viele Menschen heute materiell so gut gestellt, dass sie wählen können zwischen einem besseren Lohn oder mehr Freizeit. Auch das ist eine neue Situation: Wer aus familiären oder anderen Gründen der arbeitsfreien Zeit einen hohen Wert beimisst, für den kann die Steuerprogression durchaus ein zusätzlicher Anreiz sein, nicht Vollzeit zu arbeiten.»

An diesem Punkt setzt die Motion von Ständerat Müller an, die er kommende Woche im Parlament einreicht: «Wenn sich die Mehrarbeit finanziell stärker lohnt, kommt das der gesamten Wirtschaft zugute.» Konkret schlägt er vor, dass alle Vollzeiterwerbstätigen einen fixen Betrag vom steuerbaren Einkommen abziehen dürfen. Die Höhe will er an die maximale Einzahlung in der 3. Säule koppeln – derzeit sind dies 7056 Fr. Der Steuerabzug unterstütze nicht primär die Reichen, sondern vor allem den Mittelstand, erklärt Müller. «Es gibt viele Menschen, die sogar als Paarhaushalt Vollzeit arbeiten müssen und denen das Geld trotzdem nur knapp reicht, um im Alltag über die Runden zu kommen. Sie wollen wir finanziell besserstellen, denn sie leisten einen zentralen Beitrag für die Bewältigung des demografischen Strukturwandels.»

Das verbessere zudem die Steuergerechtigkeit: «Wie soll man einem Handwerker erklären, dass er mit seinem Vollzeitjob gleich viel Steuern bezahlen muss wie der Studierte, der nur zu 50 Prozent arbeitet und trotzdem auf den gleichen Lohn kommt?» Das heutige System bevorzuge implizit Gutverdiener, die in einem geringen Pensum arbeiten, bestätigt Marius Brülhart, der seit vielen Jahren zu Steuerfragen forscht.

Geld verteilen mit der Giesskanne?

Allerdings, warnt der Ökonom, führe ein Steuerabzug nach dem Giesskannenprinzip zu hohen Ausfällen für den Fiskus: «Für die meisten Leute entstünde ein reiner Mitnahmeeffekt: Sie kämen in den Genuss eines neuen Steuerrabatts, würden ihr Verhalten aber nicht ändern, da sie eh Vollzeit arbeiten.»

Zudem müsse man sich fragen, so Brülhart, warum man nur Leute begünstige, die 100% arbeiten, nicht aber solche, die ihr Pensum erhöhen, ohne auf das Maximum zu gehen. Als Alternative schlägt er deshalb vor: «Man könnte mit einem zeitlich befristeten Steuerabzug all jene belohnen, die ihr Pensum aufstocken – unabhängig von der Höhe. Damit würde das Instrument zielgerichtet denen zugutekommen, die zu einem höheren Arbeitsangebot beitragen.»

Wie viele Einnahmen dem Bund durch den Abzug entgehen würden, dazu liegen Damian Müller keine Schätzungen vor. Doch könne der Staat ebenso profitieren: «Wenn wir auf diese Weise die Zuwanderung verringern, entlasten wir unsere Infrastruktur. Zudem stärken die Erwerbstätigen die Altersvorsorge, was zu tieferen Ausgaben führt, namentlich für den Bund.»

Mathias Binswanger, Wirtschaftsprofessor an der Fachhochschule Nordwestschweiz, fin- det das Ziel der Motion Müller zwar berechtigt. Es ergebe Sinn, den Anreiz für die Arbeit zu erhöhen. Aus ökonomischer Warte aber beurteile er Steuerabzüge grundsätzlich skeptisch. «Unser Steuersystem ist schon heute völlig überladen und viel zu kompliziert. Deshalb halte ich es für effektiver, wir würden die Progression reduzieren und im Gegenzug die meisten Abzüge abschaffen, welche oft gerade den Wohlhabenden nützen.»

Eine solche Entschlackung der Steuerordnung habe in der Realpolitik wenig Chancen, räumt Binswanger ein. «Doch mit jeder Stellschraube, die man in diesem System verändert, tritt an einem neuen Ort eine andere Baustelle auf. Zum Beispiel könnte ein Steuerabzug für Vollzeitjobs bewirken, dass das traditionelle Familienmodell des Alleinernährers finanziell an Attraktivität gewinnt.»

Dem hält Damian Müller entgegen, dass die geplante Individualbesteuerung die Doppelverdienerpaare besserstelle und die Heiratsstrafe abschaffe. Überdies, so betont der Luzerner FDP-Politiker, wolle er mit seiner Motion einen Ruck im Land erzeugen: «Wir können nicht nur über die negativen Folgen der 10-Millionen-Schweiz reden, sondern wir müssen endlich handeln.»

Dazu gehöre eben, dass sich die Vollzeitarbeit wieder stärker lohnen solle. «Wenn wir nicht jetzt beginnen, die eigenen Arbeitskräfte besser zu mobilisieren, dann bringt uns die Zukunft entweder mehr Zuwanderung oder aber weniger Wohlstand.»