Damian Müller | Ständerat

Den Blick auf das Notwendige statt das Wünschbare richten

  • 23. April 2020
  • 9 min Lesezeit
  • Sozialpolitik nach Corona
  • Solidarität

Deutlich länger als die biblischen sieben fetten Jahre profitierten wir nun alle von einer prosperierenden Wirtschaft und in der Folge auch von einem steten Ausbau in der Sozialpolitik. Nicht nur das Notwendige – die Existenzsicherung – stand im Fokus, sondern immer öfter auch das Wünschbare.

Neue Formen von lohnbeitragsfinanziertem Staatsurlaub beschlossen wir im Parlament bis zum akuten Ausbruch der Corona-Krise beinahe im Sessionstakt. Sanierungsbedürftige Sozialversicherungen wie die Arbeitslosenversicherung (ALV) oder die Invalidenversicherung (IV) wähnten wir auf dem Weg der Genesung. Bevorstehende nötige strukturelle Reformen in den wichtigsten Sozialwerken mit neuen finanziellen Belastungen hielten niemanden vom weiteren Ausbau der Sozialleistungen ab. Zu gern liess man sich blenden von rosigen Zukunftsprognosen des Bundesrats.

Prognosen, die nun deutlich düsterer – wenn nicht rabenschwarz – ausfallen werden. Dabei sind unsere Sozialwerke auf eine blühende Wirtschaft angewiesen: Geht es der Wirtschaft und den Bürgerinnen und Bürgern gut, geht es auch den Sozialwerken gut. Bricht aber die Wirtschaft ein, fehlen den Sozialversicherungen – allen voran AHV und IV – sofort dringend erforderliche Beiträge. Corona und seine wirtschaftlichen Folgen werden uns deshalb auch in der Sozialpolitik in nächster Zeit zu einem Umdenken bewegen müssen. Der Fokus wird wieder vermehrt auf die Sicherung des Erreichten gelegt werden müssen. Bereits das Notwendige zu erhalten, wird ein grosser finanzieller Kraftakt werden. Und die eindrückliche Solidarität, die das Schweizer Volk im Akutstadium der Coronakrise an den Tag gelegt hat, wird auch bei der Bewältigung der Folgen in der Sozialpolitik wieder gefordert sein.

Eine Rezession ist unabwendbar

Denn: Ob es zu einer tiefgreifenden Rezession kommt, ist nicht mehr die Frage. Die Frage ist nur noch: wie tiefgreifend wird sie sein? Die neusten Szenarien des Staatssekretariats für Wirtschaft sind diesbezüglich düster. Gemäss Prognosen des internationalen Währungsfonds wird die Schweizer Wirtschaftsleistung dieses Jahr um 6 Prozent fallen. Damit droht uns die schlimmste wirtschaftliche Krise seit Jahrzehnten. Aktuell verlieren täglich 2000 Menschen in unserem Land ihre Stelle, trotz des Einsatzes von Milliarden für Kurzarbeit, mit der die Jobs eigentlich gesichert werden sollten. Nicht ausgeschlossen, dass wir bis in wenigen Monaten 300‘000 oder mehr Personen ohne Arbeit verzeichnen werden. Wichtige Steuereinnahmen wie die Unternehmenssteuern, auf die wir zur Finanzierung der Notmassnahmen angewiesen wären, werden stark einbrechen.

Insbesondere die umlagefinanzierten Sozialversicherungen AHV, IV, ALV und die Erwerbsersatzordnung (EO) trifft eine schwere Rezession jeweils besonders hart. Umlagefinanziert bedeutet: mit den Einnahmen des laufenden Jahres sollten auch die Ausgaben bestritten werden. Schnellt die Arbeitslosigkeit in die Höhe, brechen notgedrungen auch die Lohnbeiträge von Arbeitgebern und Arbeitnehmenden ein. Haben Menschen weniger Einkommen und wenig Vertrauen in die Zukunft, geben sie weniger aus und erhöhen ihre Sparquote. Damit brechen zusätzlich die Mehrwertsteuererträge ein. Es öffnet sich rasch eine Schere zwischen Ausgaben und Einnahmen. Ausgerechnet dann also, wenn es den kleinen und mittelgrossen Unternehmen schlecht geht und der Wohlstand leidet, drohen auch noch kostenintensive Sanierungen der Sozialwerke.

Sozialwerke unter Druck

Ein Unglück kommt selten allein, lautet ein altes Sprichwort. Der Konjunktureinbruch wird eine strukturelle Entwicklung zusätzlich überlagern, die sich allerdings seit langem abzeichnet. Es geht um die Auswirkungen der demografischen Alterung auf unsere Sozialwerke. Kürzlich wurden die Ergebnisse 2019 von AHV und IV publiziert. Bereits im letzten Jahr fehlten der AHV jeden Monat knapp hundert Millionen Franken an Beiträgen, um die AHV-Renten zu bezahlen. Nur dank eines hervorragenden Börsenjahrs musste sie noch nicht auf die eisernen Reserven zurückgreifen. Schon heute ist absehbar, dass das Ergebnis 2020 der AHV massiv schlechter ausfallen wird. Das ist dramatisch. Denn ohne Massnahmen wird die AHV 2030 alle Reserven aufgebraucht haben.

Gemäss Prognosen des Bundesrats wird sie im Jahr 2030 ein Defizit von mehr als fünf Milliarden Franken schreiben. Nur fünf Jahre später wird sich dieses jährliche Defizit bereits auf über zehn Milliarden Franken verdoppelt haben. Zudem wird die Zahl von heute gut 1,5 Millionen Rentnerinnen und Rentner in der Schweiz innert weniger Jahre um eine Million steigen, während die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die im Arbeitsmarkt nachrücken und dereinst Beiträge in die AHV-Kasse leisten, nur noch wenig wächst. Es öffnet sich eine noch nie dagewesene demografische Schere. Doch das war eigentlich die gute Nachricht. Denn diese Aussagen basieren auf äusserst positiven Finanzperspektiven des Bundesrats. So etwa bezüglich Schlüsselparametern wie Wirtschafts- und Lohnwachstum sowie Erträgen der Mehrwertsteuer. Doch so positiv wird die Rechnung nach Corona sicherlich nicht ausfallen. Denn schon 2019 gab die AHV gut 45 Milliarden Franken aus. Alleine 32 Milliarden Franken stammten aus Lohnbeiträgen. Angenommen, diese würden um zehn Prozent einbrechen, schriebe die AHV bereits innert kürzester Zeit tiefrote Zahlen. Die gerade noch da gewesenen 32 Milliarden Franken an Reserven werden wegschmelzen wie der berühmte Schnee in der Frühlingssonne. Im Jahre 2030 wird die AHV bereits knapp 85 Milliarden Franken brauchen, um die Renten zu bezahlen.

Umso wichtiger ist es, dass wir ehrlich sind und nach der veränderten Ausgangslage für die Sozialpolitik rasch Klarheit schaffen. Ich habe deshalb als Mitglied der sozialpolitischen Kommission den Bundesrat aufgefordert, die Auswirkungen auf die Sozialwerke aufzuzeigen, sobald sie einigermassen bezifferbar sind. Noch vor den Sommerferien wird uns der Bundesrat reinen Wein einschenken.

Das Rentenalter darf nicht unangetastet bleiben

Dann werden Bundesrat und Parlament sozialpolitisch gefordert sein. In der AHV-Vorlage, die der Bundesrat dem Parlament bereits überwiesen hat, muss der Fokus stärker auf die Rentensicherheit gelegt werden. Die schrittweise Anpassung des Rentenalters von Frau und Mann ist dringlich. Ohne moderate Zusatzfinanzierung wird es angesichts des gigantischen Finanzierungsbedarfs nicht reichen. Die bisher geforderten 0,7% Mehrwertsteuer sind für die Bevölkerung und Wirtschaft jedoch in der nächsten wirtschaftlich schwierigen Zeit nicht zu stemmen. Mehr als die zur kurzfristigen Stabilisierung zwingend erforderlichen 0,3% liegen deshalb nicht drin. Weiter steht zur Debatte, bereits in dieser Vorlage zusätzlich einen Automatismus einzuführen, der abhängig von der weiteren finanziellen Entwicklung der AHV zu einer schrittweisen Erhöhung des Rentenalters auch über 65 Jahre hinaus führen wird.

Auf Wünschbares, wie einen durch den Bundesrat vorgeschlagenen teuren Ausbau des flexibleren Rentenbezugs mit zusätzlichen Fehlanreizen, müssen wir dagegen konsequent verzichten. Wenn wir das tun, wird dieses Paket reichen, um die Renten für die kommenden Jahre zu sichern. Verzichtet das Parlament jedoch auf die Einführung eines Automatismus – einer Art Schuldenbremse für die AHV – folgt zwangsläufig in wenigen Jahren trotzdem die Diskussion über die einzig langfristig wirksame strukturelle Massnahme: Die stufenweise Erhöhung des Rentenalters über 65 Jahre hinaus. Denn es ist schlicht nicht denkbar, die AHV in den kommenden schwierigen Jahren ausschliesslich einnahmeseitig sichern zu wollen. Um wieviel Geld es dabei wirklich gehen wird, werden wir im Sommer anhand der überarbeiteten Finanzierungsperspektiven wissen. Bis 2035 dürfte es um zusätzliche Mehrwertsteuern oder Lohnbeiträge von mehreren Prozentpunkten gehen. Selbst mit einem bald schrittweise steigenden Rentenalter werden immer noch zusätzliche Finanzmittel in einer Grössenordnung erforderlich sein, die Wirtschaft und Erwerbstätige sehr stark belasten werden. Ohne Anpassung des Rentenalters werden wir das heutige Rentenniveau somit nicht halten können.

Auswirkungen auf die bevorstehende BVG-Revision

Dem Bundesrat wird es zudem obliegen, dem Parlament noch diesen Herbst die BVG-Revision zur Behandlung zu überweisen. Denn Corona und seine Folgen werden auch die Situation in der beruflichen Vorsorge noch einmal markant zuspitzen. Es geht nicht, die Senkung des Mindestumwandlungssatzes weiter hinauszuzögern und auf dem Buckel der jungen Generation weiteren Neurentnerjahrgängen wiederum lebenslänglich überhöhte respektive unterfinanzierte Renten auszuzahlen. Denn die aktive Generation wird die konjunkturellen und sozialpolitischen Folgen der Corona-Krise in den nächsten Jahren ohnehin mit aller Härte zu spüren bekommen. Gleichzeitig wird es ohne die vom Bundesrat beabsichtigte Kompensation zur Erhaltung des Rentenniveaus nicht gehen.

Wird in der AHV das Frauenrentenalter erhöht, ist es nur richtig, im BVG Massnahmen zur Verbesserung der Renten von Tieflöhnern und Teilzeitarbeitenden – es sind dies vor allem Frauen – umzusetzen. Dabei geht es um die Existenzsicherung. Ob der viel diskutierte Rentenzuschlag für die Übergangsgeneration wie vorgeschlagen beschlossen werden kann, oder ob er noch besser auf tiefere und mittlere Einkommen ausgerichtet werden muss, wird sich zeigen. Fakt ist: alle nur im BVG-Obligatorium Versicherten sind zwingend voll zu kompensieren, da ansonsten künftig viele von ihnen in die Ergänzungsleistungen abrutschen, was die Kantonsfinanzen massiv zusätzlich belasten würde. Ob eine solche Lösung ausreicht, ist allerdings fraglich. Die Sozialpartner hatten mit dem Vorschlag, welcher der bundesrätlichen Vorlage zugrunde liegt, auch den Mittelstand im Blick, dem wir momentan alle gerne applaudieren. Teilzeitarbeitende Pflegefachfrauen, Polizisten, Chauffeusen, Lageristen etc., die in den nächsten Jahren das Pensionsalter erreichen. Viele von ihnen verfügen zwar über eine gute überobligatorische berufliche Vorsorge, sind aber ihrerseits von massiv sinkenden Umwandlungssätzen ebenfalls stark betroffen. Wer heute mit einem vergleichbaren Altersguthaben in Rente geht wie die Berufskollegen vor zehn Jahren, erhält eine Rente, die um bis zu einen Drittel tiefer liegt. Bei einem gut dotierten Altersguthaben sind das also vielleicht noch 2000 statt 3000 Franken pro Monat. Nicht selten werden damit die Mittel im Alter auch für den Mittelstand – zusammen mit einer durchschnittlichen AHV-Rente – knapp. Viele dieser Menschen werden trotz lebenslang bezahlter überobligatorischer Beiträge in die Vorsorgeeinrichtung nur wenig über dem Niveau für Ergänzungsleistungen liegen. Ein Niveau, das nach dem Willen des Parlaments mit Wirkung ab 2021 sogar spürbar angehoben werden soll. Solidarität wird deshalb auch in diesem Punkt gefragt sein. Aber nicht nur von Jung zu Alt wie im BVG gewohnt, sondern vielleicht auch einmal in einem gewissen Umfang von Alt zu Jung. Denn ob die notwendige Finanzierung eines Rentenzuschlags allein über Lohnbeiträge geschehen kann, ist fraglich. So wird auch wenigstens eine Teilfinanzierung bspw. über die Bundeskasse zu prüfen sein. Damit würden sich auch jene Rentner solidarisch an der Finanzierung beteiligen, die noch von viel höheren Renten profitieren.

Gefährdung der IV-Sanierung

Hinfällig ist aus heutiger Sicht leider auch die Prophezeiung des Bundesrats, die IV sei saniert. Bereits im guten Jahr 2019 schloss die IV um 160 Millionen Franken schlechter ab als budgetiert. Der Entschuldungszeitpunkt gegenüber der AHV wurde längst – noch vor Corona – in die 2030er Jahre hinein verschoben. Die AHV wird diese 10 Milliarden Franken jedoch viel früher brauchen. Es macht aus dieser Optik wenig Sinn, die Vorlage zur IV-Weiterentwicklung, die im Parlament vor der Schlussabstimmung steht, überhaupt noch zu verabschieden. Denn sie ist auf Sand gebaut. Stattdessen werden sich Bundesrat und Parlament den Kopf darüber zerbrechen müssen, wie die Schuld der IV bei der AHV bald abgelöst werden kann.

Ein Geschäft, das ebenfalls der Existenzsicherung dient, gilt es dagegen rasch definitiv zu bereinigen und zu verabschieden: die Überbrückungsleistung für ältere Arbeitslose. In weiser Voraussicht machte der Ständerat gegenüber den Absichten von Bundesrat und Nationalrat wichtige Korrekturen im Sinne einer besseren Ausrichtung der Leistungen vor allem auf diejenigen, die finanziell wirklich darauf angewiesen sind. Der Nationalrat schwenkte glücklicherweise bereits vor Corona weitgehend auf dieses Modell ein. Der abgelaufene politische Prozess mit Fokussierung auf die Existenzsicherung könnte für die nähere Zukunft wegweisend sein.

Bald schon wird das Volk darüber befinden können, ob der Fokus in der Sozialpolitik wieder stärker auf das Notwendige statt auf das Wünschbare gerichtet wird. Dann nämlich, wenn es um die Volksabstimmung über die Einführung eines staatlich geregelten und lohnbeitragsfinanzierten Papiurlaubs geht. Wird dieser eingeführt, ist eine Erhöhung der Lohnbeiträge die unabdingbare Folge. Ich vertraue darauf, dass das Schweizer Volk – insbesondere angesichts der völlig neuen Ausgangslage – an der Urne Augenmass beweist. So, wie es das schon oft getan hat, wenn es um die Trennung von Notwendigem und Wünschbarem ging.

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