Nichtstun wäre ein Rückschritt
- 08. November 2024
- 4 min Lesezeit
Die Verhandlungen mit der Europäischen Union (EU) sind auf der Zielgeraden. Noch kennen wir den Inhalt der neuen Verträge nicht. Klar ist aber schon jetzt: Der Paketansatz, um den es geht, bietet uns die Möglichkeit, die bestehenden Abkommen mit der EU zu sichern und unsere Beziehungen gezielt weiterzuentwickeln.
Es ist ein Marathon: Seit Monaten schon verhandelt die Schweiz mit der Europäischen Union (EU) über die Fortsetzung des bilateralen Wegs. Mittlerweile gab es bis Ende Oktober rund 140 Verhandlungsrunden in 14 Bereichen. Die EU möchte die Verhandlungen materiell bis Ende Jahr abschliessen. Denn das Dossier Schweiz ist ein Projekt der «alten» EU-Kommission, die voraussichtlich Ende November abgelöst wird.
Ich habe den aktuell zuständigen EU-Kommissar Maros Šefčovičs als Mitglied der aussenpolitischen Kommission des Ständerats persönlich getroffen und weiss, dass er unser Land und seine Besonderheiten sehr gut kennt. Ich weiss aber auch, dass Šefčovičs eine klare Linie verfolgt. Seine Äusserung, eine Schutzklausel im Freizügigkeitsabkommen, welche die Schweiz einseitig anrufen könne, komme nicht infrage, ist durchaus ernst zu nehmen, auch wenn dies zum politischen Spiel gehört!
Natürlich gehört es dazu, dass jede Seite nach aussen auf ihrer Maximalposition beharrt. Noch sind wir in diesem Marathon nicht über der Ziellinie, und etwas Powerplay im Endspurt ist normal. Wir sollten zum jetzigen Zeitpunkt keine voreiligen Schlüsse ziehen und gelassen bleiben. Schade deshalb, dass gewisse Kreise – insbesondere Wirtschaftsvertreter, die schon immer sehr europakritisch eingestellt waren – derzeit schon angebliche Fakten verbreiten, um Verunsicherung zu schüren.
Der Handel mit der EU ist für die Schweiz extrem wichtig
Wie es sich für einen Liberalen gehört, möchte ich die Europa-Diskussion jedoch sachlich auf Basis der Fakten führen. Vieles wissen wir schlicht noch nicht, also hören wir auf, Mutmassungen anzustellen.
Was wir allerdings bereits sagen können: Wir bekommen bei einem erfolgreichen Vertragsabschluss die Möglichkeit, unsere Beziehungen zur EU langfristig zu sichern, ohne der EU beizutreten. Die Beziehungen zu Europa sind für die Schweiz eminent wichtig: Unser Land hängt mit einem Anteil von über 50 Prozent viel stärker vom Handel mit der EU und ihren Mitgliedstaaten ab als umgekehrt (für die EU beträgt das Volumen nur rund 6 Prozent). Gemäss einer Studie der Bertelsmann-Stiftung profitiert die Schweiz mit einem positiven Effekt von 2914 Euro pro Kopf und Jahr von allen Ländern am meisten vom EU-Binnenmarkt.
Die aktuellen Verhandlungen dienen dazu, das Erreichte aufrechtzuerhalten und die Beziehungen zur EU mit neuen Abkommen weiterzuentwickeln. Und zwar da, wo es unserem Standort etwas bringt. Der bilaterale Weg ist massgeschneidert für unser Land, er ist ein Schweizer Weg. Wenn wir nichts unternehmen, können wir das Erreichte, den Status Quo auf Dauer nicht bewahren: Nichtstun wäre somit ein Rückschritt für unser Land und unsere Wohlfahrt.
Durch den Abschluss neuer, in unserem Interesse liegender Binnenmarktabkommen, insbesondere im Strombereich, kann die Schweiz Engpässe vermeiden. Mit einem Stromabkommen stärken wir die Netzwerkstabilität und erhöhen die Versorgungssicherheit. Ebenso wichtig für den Standort Schweiz ist die Teilnahme an künftigen EU-Programmen in den Bereichen Forschung und Innovation, Bildung, Jugend, Sport und Kultur. Mit einem neuen Lebensmittelsicherheitsabkommen schützen wir zudem unsere Konsumentinnen und Konsumenten und ein neues Gesundheitsabkommen ermöglicht uns, grenzüberschreitende Gesundheitsbedrohungen wirkungsvoll zu bekämpfen.
Schutz unserer Sozialwerke ist zentral
Viel diskutiert wird auch die Personenfreizügigkeit. Oberstes Ziel muss es sein, die Zuwanderung konsequent auf die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes auszurichten. Eine Person, die in die Schweiz kommen will, muss grundsätzlich über einen gültigen Arbeitsvertrag verfügen oder selbstständig erwerbend sein. Beschränken müssen wir auch den Zugang zu unseren Sozialwerken. Wenn eine Person aus der EU einige Zeit in der Schweiz gearbeitet hat und dann ihre Stelle verliert, muss sie sich um eine neue Anstellung bemühen. Tut sie dies nicht, muss die Schweiz die Möglichkeit haben, der Person den Status als Erwerbstätige abzuerkennen.
Ich bin zuversichtlich, dass unsere Verhandlungs-Delegation und unser Aussenminister Ignazio Cassis bis zum Schluss mit voller Kraft für die Interessen der Schweiz einstehen werden. Warten wir deshalb ab, bis der Verhandlungs-Marathon zu Ende ist und wir den Inhalt der Verträge kennen. Dann erst ist der Zeitpunkt da, um abzuwägen, wo die Vor- und Nachteile einer Paketlösung mit der EU liegen. Heute schon mit Fundamentalopposition dagegen zu drohen, ist nicht zielführend.