Mehr Fakten und weniger Ideologie bitte!
- 28. März 2024
- 9 min Lesezeit
Was Parteien und gewisse Kolleginnen und Kollegen aus dem Parlament seit dem deutlichen Ja zur 13. AHV-Rente vom 3. März zum Besten geben, stimmt mich nachdenklich. Offenbar wurden viele von ihnen durch diesen Volksentscheid tatsächlich völlig auf dem falschen Fuss erwischt. Ebenso vom wuchtigen Nein zur Renteninitiative.
Wohl deshalb sprudeln die Ideen zur Umsetzung und (Nicht-)Finanzierung nur so heraus. Bis zu beinahe kindischem Trotzen wird dabei ziemlich die ganze Bandbreite dessen abgedeckt, was man sich gerade noch ausmalen kann. Wesentlich scheint es mir als Präsident der Kommission für Gesundheit und Soziales des Ständerats stattdessen zu verstehen, was denn wirklich passiert ist, und wie nun ein sinnvolles weiteres Vorgehen in der Altersvorsorgepolitik – namentlich in der Finanzierung der AHV – aussehen könnte. Leider ist auch das, was der Bundesrat am Mittwoch, 27. März 2024 kommuniziert hat, ebenso wenig durchdacht.
Um es deutlich zu sagen: Auch ich war der Auffassung, in einer Gesellschaft mit einer stetig steigenden Lebenserwartung und viel weniger auf dem Arbeitsmarkt eintretenden Jungen als Älteren Austretenden, sei es nichts als sinnvoll, das Rentenalter schrittweise zu erhöhen. Und auch ich war der Auffassung, die Einführung einer 13. AHV-Rente für Jede und Jeden – Arm und Reich – sei nun nicht die beste Idee. Trotzdem akzeptiere ich das Verdikt des Stimmvolkes ohne Wenn und Aber und versuche zu verstehen, was insbesondere auch eine Auseinandersetzung mit Fakten lohnend macht. Denn ich gehöre offenbar zu den wenigen Bürgerlichen, die schon vor Monaten ein Szenario nicht a priori ausgeschlossen haben, wie es nun eingetroffen ist. So habe ich etwa auch vor einer für Gewerbe und KMU-Wirtschaft zu teuren, mindestens partiellen Ausbauvorlage zur Revision der zweiten Säule gewarnt, die gleichzeitig bei gewissen älteren Erwerbstätigen mit Aussicht auf lediglich schmale Renten noch zu Renteneinbussen führt. Ohne unermüdlich auf die Tatsache hinzuweisen, wonach eine ausgewogene, mehrheitsfähige Lösung wichtig wäre, denn die heutige Situation mit der verdeckten Quersubventionierung von Jung zu Alt ist mehr als nur unschön. Ein Sozialabbau ausgerechnet bei Vollzeiterwerbstätigen mit tiefen Renten wird das Stimmvolk jedoch kaum begeistern. Meine Zweifel sind nach dem AHV- Abstimmungssonntag diesbezüglich nicht kleiner geworden. Mit meinem Engagement für den strikten Erhalt des Leistungsniveaus auch für Erwerbstätige mit tieferen Einkommen bin ich allerdings nicht überall auf Verständnis gestossen. Die Schlacht an der Urne um die Revision der beruflichen Vorsorge steht uns noch bevor. Ausgang offen.
Was bedeutet nun das Verdikt des 3. März 2024? Erstens trauen Dreiviertel der Stimmenden der Wirtschaft offenbar nicht, dass sie die älteren Arbeitnehmenden auch tatsächlich länger beschäftigen würden. Ob sich all die herumgebotenen Beispiele von Menschen um die sechzig auf Stellensuche genauso zugetragen haben, wie sie erzählt werden, kann ich nicht beurteilen. Tatsache aber ist, dass es die Wirtschaft als Ganzes in den letzten Jahren verpasst hat, klare Zeichen zu setzen. Denn sie hat es in der Hand. Schon heute muss eine Unternehmerin oder ein Unternehmer nicht auf den Staat warten, um Menschen länger zu beschäftigen oder ältere Stellensuchende zu engagieren! Ein Blick in neuere Studien und Statistiken lässt die Hoffnung leider rasch im Keime ersticken, da habe sich in den letzten Jahren viel zum Guten hinbewegt. Vielleicht haben diejenigen doch nicht ganz Unrecht die behaupten, es sei halt doch einfacher, junge ausländische Fachkräfte ins Land zu holen? Mit all den Folgeproblemen, die sich uns zunehmend stellen. Wohnungsknappheit, zusätzlich steigende Sozialkosten, Nachholbedarf im Infrastrukturausbau. Für die – demografisch eigentlich dringend gebotene Erhöhung des Referenzalters – fehlte es damit faktisch aber an einer entscheidenden Grundlage: Dem Tatbeweis der Wirtschaft und dem Vertrauen breiter Bevölkerungsschichten in die Wirtschaft. Ich frage mich: Wo waren sie, die Konzernchefs, mit der klaren Ansage: Wir freuen uns, unsere erfahrenen Mitarbeitenden länger zu beschäftigen? Es reicht nicht, ein paar Millionen in aussichtslose Kampagnen zu stecken, wenn der gesellschaftliche Konsens für solch wichtige Entwicklungen nicht erstellt ist!
Ebenso wehre ich mich dagegen, nach dem letzten Abstimmungssonntag die ältere Generation unter Generalverdacht zu stellen: Sie sind nicht alle zu Egoisten verkommen. Was für ein Blödsinn, wer so etwas behauptet! Ich habe mich bewusst vertieft mit den Fakten befasst, als wir uns im Parlament in den letzten Jahren über verschiedene Altersvorlagen gebeugt haben. Das bedeutete harte Arbeit, die mir einerseits Freude bereitet, mich anderseits aber auch nachdenklich macht. Es gibt sie, die «goldenen» Rentnerinnen und Rentner. Und gewiss nicht wenige an der Zahl. Diejenigen, die von den hohen Umwandlungssätzen profitiert haben, deren Häuschen aus den 70er- oder 80er-Jahren inflationsbedingt heute ein Mehrfaches dessen Wert ist, was es damals gekostet hat. Erbaut meist unter grossen finanziellen Opfern, doch es hat sich mehr als gelohnt. Zum Glück gibt es sie, diese goldenen Rentner! Es gibt aber auch die andern, die wohl eher als «Silber- oder Bronzerentner» zu bezeichnen wären, um in der olympischen Sprache zu bleiben. Eine durchschnittliche AHV-Neurente beträgt 2022 gemäss Bundesamt für Statistik weniger als 2000 Franken für Männer im Monat. Die Hälfte der Männer, die 2022 frisch pensioniert wurden, erhielten dazu eine Rente aus der beruflichen Vorsorge in der Höhe von gut 2000 Franken. Das bedeutet aber auch: die andere Hälfte eine Rente, die darunter liegt. Düsterer sieht das Bild für die Frauen aus. Die Hälfte der Frischpensionierten erhielt 2022 eine Neu-Rente aus der beruflichen Vorsorge, die höher als 1237 Franken pro Monat ist, die andere Hälfte somit eine Rente, die tiefer ist. Man mag einwenden, Kapitalbezüge seien dabei nicht eingerechnet. Doch auch unter deren Berücksichtigung wird rasch klar: viele Menschen in unserem Lande haben keine üppigen Renten zu erwarten, selbst wenn sie ein ganzes Leben lang streng gearbeitet haben. Zum Glück gibt es deshalb auch die Ergänzungsleistungen. Und diese sind besser als ihr Ruf. Denn immerhin werden einer alleinstehenden Person im Alter, je nach Lebenshaltungskosten, die monatlichen Mittel bis gegen 3500 Franken aufgestockt, für Ehepaare bis gegen 5500 Franken. Und Ergänzungsleistungen sind erst noch steuerfrei.
Angesichts dieser Fakten und zusammen mit steigenden Mieten, Krankenkassenprämien und weiteren Kaufkraftverlusten, wird es so für die Linke zum leichten Spiel, wenn sich die bürgerliche Politik nur auf die Finanzierungsseite der Sozialwerke einschiesst, statt auch die Leistungsseite im Auge zu behalten. Und dabei die reale Lebenssituation vieler Menschen beiseitelässt. Denn beides ist wichtig; besonders in einer direkten Demokratie, in der das letzte Wort beim Souverän liegt. Man durfte deshalb als Seniorin oder Senior – und nicht nur als Mitglied dieser Alterskohorte – der 13. Rente durchaus auch mit sachlichen Argumenten zustimmen. Das ist kein Versagen des Volkes, wenn schon ist es ein Politikversagen. Die Senioren wollten damit auch nicht einfach die Jungen im Stich lassen, das ist mir aus vielen persönlichen Rückmeldungen klar. Wir – Bundesrat und die Mehrheit des Parlaments – waren wohl eher auf einem Auge blind. Deshalb greift es auch zu kurz, den schwarzen Peter einfach den Wirtschaftsverbänden für ihre zumindest teilweise missglückte Kampagne in die Schuhe zu schieben. Doch auch sie müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, die Fakten nicht hinreichend gewürdigt zu haben.
Nur zu gut verstehe ich natürlich aber auch den Ärger vieler Jungen. Sie fühlen sich missverstanden und sie werden teilweise zukunftspessimistisch. Dafür gibt es Gründe. Schon nur eine erste bezahlbare Wohnung zu finden, ist zur Herausforderung geworden. Wohneigentum zu erwerben im Familien-Stadium? Fehlanzeige für all jene, die nicht auf zahlungskräftige und -willige Eltern zählen können.
Und jetzt? Sie kostet viel Geld, die Umsetzung der 13. AHV-Initiative. Wer soll das bezahlen? Und nicht nur die 13. AHV kostet eine Stange Geld, die AHV steht vor strukturellen Herausforderungen aufgrund der demografischen Alterung. Innert zehn Jahren wird eine Finanzierungslücke klaffen in der Höhe von gegen zwei Mehrwertsteuerprozenten, über 7 Milliarden Franken, pro Jahr! Und da wären ja auch noch die steigenden Gesundheitskosten oder die Armeeausgaben.
Der Bundesrat hat die Frage geklärt: ab 2026 wird die 13. AHV ausbezahlt, egal, was wir uns im Parlament noch für Taktierereien leisten zur Finanzierung. Ob sie tatsächlich als 13. Rente ausbezahlt wird oder in zwölf Tranchen pro Monat, ist noch offen. Auch dabei geht es weniger um Symbolik als um Fakten: welches Modell hat welche Auswirkungen auf die Kosten der Durchführung und deren Komplexität? Keinerlei taktische Spielchen verträgt aber insbesondere auch die Frage der Finanzierung. Natürlich könnte man den AHV-Fonds theoretisch zuerst einmal ausbluten. Doch das wäre weder seriös noch durch den Volksentscheid legitimiert. Und im Übrigen auch nicht gesetzeskonform, denn die AHV soll gemäss Gesetz immer eine Reserve in der Höhe einer Jahresausgabe haben. Also braucht es zusätzliche Mittel, und zwar bald. Deshalb legt der Bundesrat rasch seine Vorstellungen auf den Tisch. Lösungsansätze wie eine Finanzmarkttransaktionssteuer oder eine Erbschaftssteuer lassen nicht nur die Gemüter höherschlagen, sie sind auch komplexer und deshalb sorgfältig zu prüfen. Auf die Schnelle geht da nichts. Mittelfristig werden sich Parteien und Parlament aber auch dieser Diskussion stellen müssen. Und zwar naheliegenderweise im Rahmen der nächsten AHV-Revision ab 2026.
Dann nämlich muss der Bundesrat die Vorlage bringen, welche die AHV strukturell langfristig sichert mit Wirkung ab 2030. Diese Revision wird eine gleichsam faktenorientierte Diskussion erfordern, die auch die berechtigten Interessen aller Generationen fair bewertet und austariert. Das gilt sowohl für die Leistungs- als auch für die Finanzierungsseite. Das schulden Bundesrat und Parlament dem Stimmvolk und insbesondere auch den jüngeren Menschen.
Folgerichtig verbleiben für die kurzfristige Perspektive nur zwei Finanzierungsquellen: Lohnbeiträge oder Mehrwertsteuer. Lohnbeiträge erfordern dabei nur eine Gesetzesänderung, während eine Mehrwertsteuererhöhung auf Verfassungsstufe verankert werden muss und deshalb – erneut – die Zustimmung von Volk und Ständen erfordert. Wetten, dass diese auch B sagen zur Finanzierung, nachdem sie A zur besseren Leistung gesagt haben? Denn nur die Mehrwertsteuer bietet in der veränderten Ausgangslage eine hinreichende Fairness zwischen den Generationen. Alle zahlen mit, auch gut betuchte Rentnerinnen und Rentner, die nun von der 13. AHV-Rente profitieren werden. Jetzt nur die Jungen und ihre Arbeitgeber zur Kasse zu bitten mittels höheren Lohnbeiträgen – und damit de facto insbesondere auch die Exportwirtschaft zusätzlich zu belasten – wäre alles andere als fair und volkswirtschaftlich falsch. A propos: Völlig unrealistisch sind auch die Forderungen, wonach doch einfach im Bundesbudget die vier Milliarden Franken für die 13. AHV einzusparen seien. Da gebe ich kritischen Beobachtern durchaus recht, wenn sie monieren, wonach wir in Bundesbern jeweils im Dezember in der Budgetdebatte kaum in der Lage seien, uns mehrheitlich auf ein paar hundert Millionen Franken Kürzungen zu einigen. Realistischer kurzfristig ist es deshalb wohl, aus der Mehrwertsteuererhöhung der Bundeskasse auch noch die 800 Millionen Franken jährlich zurückzuerstatten, welche die 13. AHV dort an Mehrkosten verursacht. Auch wenn mir diese Aussicht auch nicht gefällt: kurzfristige massive Budgetkürzungen in der Landwirtschaft oder der Bildung sind kaum eine mehrheitsfähige Option.
Doch noch entscheidender scheint mir ein zweiter Aspekt: Diese schon fast logische Mehrwertsteuererhöhung ist zu befristen bis Ende 2029! Denn nur so schaffen wir die Möglichkeit, ohne Präjudizien im Rahmen der bevorstehenden AHV-Revision ab 2026 mit Wirkung ab 2030 eine faktenbasierte und generationenfaire Lösung zu finden., Für einmal möglichst ohne ideologische Scheuklappen hüben wie drüben! Denn Tabus können wir uns in der Altersvorsorgepolitik nicht mehr leisten. Und von realitätsfremden, stark ideologisch getriebenen Diskussionen hat das Schweizervolk offensichtlich genug. Ansonsten hätte es dem Bundesrat und der Mehrheit des Parlaments am 3. März 2024 nicht an der Urne die rote Karte gezeigt!