Damian Müller | Ständerat

Fakten statt Ideologien!

  • 18. Juni 2020
  • 8 min Lesezeit
  • Zur Weiterentwicklung IV
  • Solidarität

Es ist leider eine Tatsache: Allzu oft sitzt bei uns Politikern die Zunge etwas gar locker. Mit Analysen, die zuweilen eher an den Stammtisch als ins Bundeshaus gehören, sind die Meinungen subito gemacht. Doch wehe, man will sich als Politiker zuerst die Fakten beschaffen, bevor man Entscheidungen fällt: Dann gerät man leicht ins Kreuzfeuer der politischen Gegner und wird durch ihre Lobbyisten bedrängt. Dabei sind Fakten die einzige Entscheidungsgrundlage, wenn es um die Weiterentwicklung unserer IV geht – alles andere ist Ideologie.

Schon der berühmte deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer soll gesagt haben: „Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern?“ So wird er jedenfalls immer wieder zitiert. Seine Aussage hatte aber noch einen zweiten Teil, der hiess: „Nichts hindert mich, weiser zu werden.“ Ich meine, gerade wir Politiker müssen zwingend die Fakten kennen, um weise Entscheidungen zu treffen. Deshalb bat ich in der einwöchigen Sondersession Anfang Mai den Bundesrat mittels einer Interpellation, aktuelle Zahlen zur finanziellen Lage der Invalidenversicherung zu präsentieren. Denn es ist klar, dass sich die Coronakrise auch auf die Finanzierung der IV auswirken wird.

Umlagefinanzierte Sozialversicherungen sind unter besonderem Druck

Im Umlageverfahren werden eingezahlte Beiträge unmittelbar dazu gebraucht, die Leistungen jener Menschen zu finanzieren, die darauf Anspruch haben. So funktionieren sämtliche umlagefinanzierten Sozialversicherungen, insbesondere die AHV oder die IV. Aus heutiger Sicht sind wohl die bisherigen Annahmen des Bundesrates – einmal mehr, muss man sagen, da der Bundesrat etwa alle zwei Jahre still und leise einen neuen Entschuldungszeitpunkt nannte – bereits wieder überholt. Schon im wirtschaftlich überaus erfolgreichen Jahr 2019 schloss die IV um rund 160 Millionen Franken schlechter ab als vom Bundesrat prognostiziert. Als vor Jahren die IV mit 15 Milliarden Franken im Minus lag, beschloss das Parlament einen mehrstufigen Sanierungsplan, der auch eine zeitlich befristete Zusatzfinanzierung mit Zuschüssen aus der Mehrwertsteuer, die eigentlich für die AHV bestimmt waren, umfasste. Diese Schulden sollte die IV schrittweise bis Mitte der 2020er-Jahre wieder abtragen, indem sie künftige Überschüsse an die AHV überweist. Doch dazu kommt es nicht. Zwar hatte der BR mit Blick auf die Abstimmung über die befristete Zusatzfinanzierung dem Schweizervolk versprochen, ihm anschliessend eine weitere Vorlage zu präsentieren, die ausgabenseitig ansetzen sollte, um das Ziel des Schuldenabbaus zügig zu erreichen. Doch als Sozialminister Alain Berset dann Entwarnung gab – die IV-Sanierung laufe so gut, dass die Vorlage nicht mehr nötig sei – schenkte ihm das Parlament gerne Glauben. Die Beratung der Vorlage wurde abgebrochen, die Vorlage später endgültig schubladisiert. Stattdessen einigte man sich auf eine neue Definition von Sanierung: saniert ist auch dann, wenn sich der Schuldenabbau zeitlich immer etwas mehr nach hinten verschiebt. Sozialminister Berset folgte weiter unbeirrt dem eingeschlagenen Pfad und legte die IV-Weiterentwicklung auf den Tisch. Die «WEIV», wie sie kurz heisst, soll die IV nur noch qualitativ weiterbringen, finanziell sei alles im besten Lot. In der Botschaft stand noch, bis 2028 werde die IV nun ihre Schuld bei der AHV abgetragen haben. Während der Beratungen schob sich allerdings auch dieses Versprechen immer wieder ein wenig mehr hinaus. Offiziell – noch vor Corona und seinen Auswirkungen – war am Ende von 2032 die Rede.

Parlament ist nicht unschuldig

Sich als Parlamentarier aber jetzt die Hände in Unschuld zu waschen, wäre nicht ehrlich. Beeindruckt von guten Zukunftsprojektionen, basierend auf einer jährlich stark wachsenden Wirtschaft mit eindrücklichem Jobwachstum, das auch Menschen mit Beeinträchtigungen zu Gute kam, zeigte sich das Parlament nachlässig. Viele von uns liessen sich auch von der hohen Nettozuwanderung von durchschnittlich 60’000 Personen bis im Jahr 2030 blenden, die auf dem Papier sprudelnde zusätzliche Lohnbeiträge zuhanden der IV-Kasse versprach. Gutgläubig sorgten wir im Parlament dafür, dass von zwei Varianten immer die Grosszügigere durchkam. Bedenkenlos haben wir auch die letzten Massnahmen gestrichen, die noch ein bisschen finanzielle Verbesserung gebracht hätten.

Nun soll bei der «Weiterentwicklung IV – WEIV» am Ende eine schwarze Null resultieren. Auch hier herrscht Optimismus allerorts: So geht man davon aus, dass der wirtschaftliche Aufschwung der vergangenen Jahre anhält. Und man geht davon aus, dass nach wie vor eine erfolgreiche berufliche Eingliederung von Menschen mit Handicap gelingt. Was allerdings passiert, wenn die Schweiz in eine Rezession schlittert, die es schon für Menschen ohne Beeinträchtigungen schwierig macht, einen Job zu finden, bleibt unberücksichtigt. Stattdessen soll jetzt ein neues Rentensystem eingeführt werden, das für verschiedene Rentnerinnen und Rentner Einbussen bringen wird. Diese sollen ihr Resterwerbspotenzial im Arbeitsmarkt einsetzen. Aber ist das in rezessiven Zeiten auch realistisch? Das neue Rentenssystem wurde von den Durchführungsstellen aus verschiedenen Gründen immer wieder stark kritisiert. Aber diese Warnungen sind wir im Parlament grosszügig übergangen.

Dabei liegt der Schluss nahe: Auch die Annahmen, die der WEIV zu Grunde liegen, sind einmal mehr viel zu optimistisch. Schon vor Corona lag die IV erneut hinter Plan. Und nach Corona dürfte das noch viel stärker der Fall sein. Wie diese Zahlen konkret aussehen, das möchte ich – wie eingangs erwähnt – gerne wissen, bevor ich einer nicht unbedeutenden IV-Revision zustimme.

Fragen, die lieber nicht gestellt werden sollten?

Doch alleine meine Interpellation ist erstaunlich vielen Leuten in den falschen Hals geraten. Einen anderen Schluss als diesen kann ich aus den teils unglaublichen Reaktionen von Lobbyisten der Behindertenverbände nicht ziehen. Dabei habe ich den Bundesrat um nichts anderes gebeten, als vor der definitiven Verabschiedung der Vorlage seine Projektionen zu aktualisieren und sie uns vorzulegen. Als Parlamentarier kann ich nur seriös entscheiden, wenn ich weiss, ob die Vorlage tatsächlich noch aufgehen kann. Ich möchte wissen, was die zu erwartenden Auswirkungen für den Schuldenabbau bei der AHV sind. Denn diese wird demnächst auf das Geld der IV angewiesen sein. Die heftigen Reaktionen machen mich stutzig. Ich frage mich: Soll hier etwas durchgeboxt werden? Haben wir womöglich in der Beratung etwas übersehen? Oder weshalb fürchtet man eine Denkpause von kurzen zwei Monaten so sehr, wenn doch alles tipp topp ist?

Gute Entscheide gibt es nur mit sauberen Fakten

Als Parlamentarierinnen und Parlamentarier tragen wir eine grosse Verantwortung. Zum Beispiel diese, wie die Steuergelder und die Lohnbeiträge von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern eingesetzt werden. Wir müssen deshalb wissen, was Sache ist, um die richtigen Beschlüsse zu fassen. Ich nehme die Warnungen der Durchführungsstellen ernst, die besagen, dass das neue Rentensystem zu grösseren Verwerfungen führen könnte, weil die Betroffenen um die Anerkennung eines jeden Prozentpunkts an IV-Grad kämpfen werden. Schliesslich sind sie auf ihre Rente angewiesen, und eine solche Reaktion wäre ein gut nachvollziehbares und menschliches Verhalten. Aber diese Reaktion hätte aller Wahrscheinlichkeit nach massive Folgen für die Finanzierung der Versicherung. Profitieren würde ein Heer von Anwälten, welche die Durchführungsstellen mit Klagen eindeckten. Selbstverständlich ist ein Schelm, wer vermutet, auch die Betroffenenorganisationen würden dann den Menschen mit Beeinträchtigungen ihre Beratungsdienstleistungen nahelegen, um anschliessend beim Bund einen Ausbau derselben zu fordern.

Klar ist doch: Falls die aktuellen Zahlen überholt sind, dann hätten wir zumindest die Möglichkeit, die kurze Denkpause zu verlängern und uns den neuen Herausforderungen zu stellen. Zum Beispiel, was mit den immer noch CHF 10 Mia. Schulden geschehen soll, wenn der Schuldenabbau auch bis 2032 nicht realistisch ist? Dann müssen wir entscheiden, um wie viele Jahre wir ohne Konsequenzen weiter in die Verlängerung gehen wollen, entgegen jeglicher Versprechungen gegenüber dem Stimmvolk. Oder was wir tun, wenn wir uns eingestehen müssen, dass die Annahmen für den Erfolg der beruflichen Eingliederung einfach zu optimistisch waren für Zeiten mit höherer Arbeitslosigkeit. Wäre es dann noch vertretbar, Menschen mit Rentenbedarf ein höheres Pensum zuzumuten, das sie in der Realität vielleicht nie leisten können? Oder greifen wir dann einfach zum Mittel der Quote, entgegen aller Beteuerungen des Sozialministers im Rahmen der Beratungen der Vorlage? «Dank» der «qualitativen Weiterentwicklung» droht möglicherweise in wenigen Jahren ein weiterer Leistungsabbau, da die Zahl von Neurentnern selbst bei grössten Anstrengungen nicht so stark zurückgehen wird, wie wir das bisher glaubten – vor Corona. Ist es das, was aggressive Lobbyisten anstreben: Neue Zusatzeinnahmen für verkalkulierte Revisionen? Eine politische Illusion angesichts der Tatsache, dass nur schon hohe Zusatzeinnahmen nötig sein werden, um zeitgleich und an den Folgen einer Rezession leidend die heutigen Altersrenten zu sichern sein werden, die strukturelle Herausforderung der demografischen Alterung zu bewältigen sein wird. Falls aber der Bundesrat alle Zweifel glaubwürdig beseitigen wird, dann könnte das Parlament mit Zuversicht die WEIV nach einer kurzen Denkpause in der Herbstsession verabschieden. Nichts wäre verloren, aber viel gewonnen.

Ohne Scheuklappen

Ideologische Scheuklappen sind immer hinderlich, um gute Lösungen zu finden. Vor allem aber gilt es, Denkverbote zu verhindern, gerade wenn die Fragestellungen komplex sind und die zu erwartenden Resultate unangenehm. Halten wir uns doch an den zweiten Teil des berühmten Adenauer-Zitats und nutzen die Chance, um weiser zu werden. Denn Politik ist mehr als pure Ideologie.

Keine Panik, liebe Lobbyisten!

Ich kann sie beruhigen, liebe Lobbyisten. Auf so etwas wie Corona ist unser Rechtsetzungsverfahren gar nicht vorbereitet. Während wir in der Zwischenzeit Milliarden an Notkrediten bewilligt haben, verschiebt sich die noch für die Märzsession vorgesehene Schlussabstimmung über die WEIV nach dem vorzeitigen Abbruch der Session nun einfach automatisch in die laufende Junisession. Die Möglichkeit einer kurzen Denkpause – wie sie aufgrund von Corona und dessen Folgen nun eigentlich angebracht wäre – ist in unseren Verfahrensregeln nicht einmal vorgesehen. Dafür gibt es auch kein Notrecht. Tun wir also weiter so, als wäre alles bestens und auch nichts Aussergewöhnliches geschehen. Nicht einmal ein Antrag auf Verschiebung der Schlussabstimmung in die Septembersession wäre zulässig. Dann hätten wir bspw. wenigstens gewusst, wie der Bundesrat die Auswirkungen der Coronakrise auf den weiteren Verlauf des Schuldenabbaus der IV beurteilt. Bringen wir stattdessen die Errungenschaft also ins Trockene. Faktenfrei. Und reiben wir uns dann bereits bald danach die Augen, sollten wir völlig überraschend in Sachen IV-Sanierung und -Schuldenabbau einmal mehr vor einer weiterentwickelten Ausgangslage stehen.  Was mache ich in dieser Situation, der ich doch Fakten vor Ideologien stellen möchte? Gerade auch in einer Situation, in der es immerhin um vielleicht weit gehende Folgen für Menschen mit Beeinträchtigungen geht? Ich überlege es mir noch. Fakt ist: ich kann nur Ja oder Nein sagen. So sind die Spielregeln.

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