Die Schweizer Migrationspolitik muss widerstandsfähiger werden

  • 09. November 2022
  • 4 min Lesezeit
  • Zuversicht

Seit einigen Monaten verzeichnet die Schweiz einen starken Anstieg von Asylanträgen. Experten sprechen von 100’000 Asylsuchenden im Jahr 2022. Das sind mehr als doppelt so viele wie 2015, als die Asylanträge mit fast 40’000 ihren Höhepunkt inmitten der damaligen Flüchtlingskrise erreicht hatten. Der Krieg in der Ukraine ist eine Ursache für die jüngste Entwicklung, aber längst nicht die Einzige.

Das neue Asylsystem funktioniert nicht wie geplant

Wir müssen nüchtern konstatieren: Die Schweiz hat es in den letzten Jahren verpasst, eine zukunftsfähige Strategie zu entwickeln. Deshalb müssen wir nun unter Zeitdruck und mitten in der Krise reagieren. Trotz Lobeshymnen der Verantwortlichen des Staatssekretariats für Migration auf das aktuelle System erfüllt die umgesetzte Reform des Asylsystems die Erwartungen nicht. Ausbaden müssen die Misere die Kantone. Denn das SEM ist zum alten Regime zurückgekehrt: Es verteilt die Asylsuchenden wieder auf die verschiedenen Kantone. Diese müssen sich dann um Unterbringungsmöglichkeiten kümmern. Dass es soweit gekommen ist, überrascht nicht. Denn die ehemalige Vorsteherin des EJPD hat vor Jahren die Niederlande als Beispiel für die Umsetzung der Reform unseres Bundesasylgesetzes herangezogen. Das Asylzentrum von Ter Apple in Holland diente als Vorbild. In Tat und Wahrheit symbolisiert dieses das Scheitern der holländischen Asylpolitik. Glücklicherweise ist das Schweizer System etwas widerstandsfähiger als das holländische. Trotzdem ist auch unser Land dem heutigen Ansturm ganz offensichtlich nicht gewachsen. Daher plädiere ich für die Rückkehr zu einem System, in dem Wirtschaftsmigranten rasch eine verbindliche Entscheidung erhalten.

Die Rückkehr funktioniert nicht zufriedenstellend

Eine höhere Geschwindigkeit bei solchen Entscheiden löst allerdings noch nicht alle Probleme. Der zweite, ebenso wichtige Teil einer Asyl-Reform wird meist übersehen: Die Beschleunigung des Vollzugs der Wegweisung der  Betroffenen. Seltsamerweise hat das SEM nie eine Statistik über die angebliche Beschleunigung des Vollzugs vorgelegt. Es machen sich berechtigte Zweifel breit, ob die Rückkehr von abgewiesenen Asylbewerbern für das SEM überhaupt Priorität hat.

Es gibt beispielsweise keinerlei Fortschritte, was die Rückkehr nach Algerien betrifft. Ich hatte in einer Motion, die von beiden Räten gegen den Willen des Bundesrates angenommen wurde, gefordert, die Rückführung auf dem Seeweg nach Algier zu konkretisieren, wenn keine Sonderflüge nach Algerien organisierbar sind. Passiert ist bis jetzt nichts. Auch was Eritrea betrifft, ist es offensichtlich, dass das SEM nicht vorangekommen ist, obwohl die Zahl der hängigen Fälle 350 Personen (Stand 30.09.2022) überschritten hat. In Bezug auf Afghanistan hat das jahrelange Hin und Her die Rückkehr zahlreicher afghanischer Staatsangehöriger verhindert. Die Zahl der Diaspora in der Schweiz nimmt weiter zu, was neue afghanische Asylsuchende aus der Türkei über die Balkanroute anzieht.

Die ungenügende Rückkehrbemühung hat zur Folge, dass sich viele Asylsuchende weiterhin im Nothilfesystem der Schweiz aufhalten. Sie belegen Unterkünfte, die eigentlich den Flüchtlingen, die den Schutz der Schweiz benötigen, zur Verfügung gestellt werden müssten.

Den Transit von irregulären Migranten nicht dulden

Aber statt die illegale Migration gezielt zu bekämpfen, begleitet der Bund den Transit von irregulären Migranten in andere Länder wie Frankreich und Deutschland. Diese fehlende Reaktion der Schweizer Behörden hat den Zorn einer Vertreterin der deutschen Fraktion CDU/CSU hervorgerufen. Zu Recht, denn es ist nicht verantwortungsvoll von den Schweizer Behörden, diesen Transit zu gewähren. Das SEM sollte die Kantone und die Grenzwache anweisen, die illegale Einreise in unser Land so weit wie möglich zu reduzieren und die Grenzkontrollen zu Österreich wiedereinzuführen. Deutschland hat gerade die Kontrollen an der Grenze zu Österreich um weitere sechs Monate verlängert. Auch Österreich verlängert die Grenzkontrollen zur Slowakei. Mit diesem Schritt folgt Österreich dem Nachbarland Tschechien. Nur die Schweiz belässt ihre Grenzen ohne Kontrolle, und alle Migranten wissen das.

Sans-Papier-Migranten müssen unverzüglich nach Österreich zurückgeschickt werden. Dafür gibt es das Rückübernahmeabkommen aus dem Jahr 2000. Trotz des Zustroms von Migranten im Jahr 2015 über die Balkan-Migrationsroute hielt es kein Verantwortlicher des Bundes für nötig, dieses Rückübernahmeabkommen neu zu verhandeln. Ohne dieses Versäumnis wären wir auf die Situation heute besser vorbereitet. Aktuell müssen wir aber davon ausgehen, dass Österreich sich weigern wird, dieses Abkommen zu seinem Nachteil neu zu verhandeln. Übrig bleibt lediglich ein gemeinsamer Aktionsplan Österreich – Schweiz, bei dem man sich fragt, was er zu einer Lösung beisteuern kann.

Es ist höchste Zeit, dass wir effektive Massnahmen ergreifen, um den Transit von Migranten durch unser Hoheitsgebiet zu unterbinden. Mittelfristig ist es zudem erforderlich, den blinden Idealismus aufzugeben und unser Asylsystem von Grund auf zu reformieren. Wir müssen gemäss unserer humanitären Tradition jene Menschen schützen, die wirklich schutzbedürftig sind. Nur mit diesem konsequenten Fokus kann unser Asylsystem weiterhin auf den Rückhalt in der Bevölkerung zählen – und wird gleichzeitig widerstandsfähiger für künftige Krisen.