Damian Müller | Ständerat

Der Kostenröhrenblick ist veraltet

  • 25. Juli 2023
  • 9 min Lesezeit

Permanent steigende Gesundheitskosten schlagen sich bei den Versicherten teils massiv auf höhere Krankenkassen-Prämien nieder. Für diverse Medikamente bestehen Lieferengpässe. Seit Jahren streiten verschiedene Player über Tarife und Modelle. Da stellt sich die Frage: Wo soll diese Entwicklung noch hinführen? Von Ernesto Piazza im Willisauer Bote

Damian Müller, die Knappheit von Medikamenten und Medizinprodukten sind momentan in aller Munde. Wie sehr bereitet Ihnen diese Situation Sorge?

Sie ist für mich sehr besorgniserregend. Das Versorgungsproblem zeichnet sich schon seit Längerem ab. Der Grund liegt in der europäischen Medizinprodukteverordnung. Diese ist zwar gut gemeint, in der Realität aber viel zu bürokratisch und innovationshemmend. Sie sollte eigentlich die Patientensicherheit erhöhen, sie ist aber zu einem Risiko geworden.

Weshalb?

Die Firmen reduzieren ihr Sortiment um durchschnittlich 15 Prozent, weil sich die Rezertifizierung unternehmerisch nicht lohnt. Viele altbewährte klinisch einwandfreie Produkte verschwinden deshalb vom Markt. Und neue – so zeigt es eine europaweite Studie – kommen immer häufiger erst in den USA auf den Markt. Bestenfalls gelangen diese Produkte um Jahre verzögert nach Europa und in die Schweiz.

Sind auch Schweizer Produkte davon betroffen?

Ja, viele sogar.

Zum Beispiel?

Die Firma Geistlich mit Hauptsitz in Wolhusen, die weltweit 800 Personen, davon 450 in der Schweiz, beschäftigt, hat sich auf die medizinische Regeneration von Knochen, Knorpel und Gewebe spezialisiert. Und sie hat ein zweischichtiges Pflaster entwickelt, das die Struktur der menschlichen Haut nachahmt und das Überwachsen einer akuten oder chronischen Wunde mit Epithelzellen erleichtert, zum Beispiel an den Füssen von Diabeteskranken. Dieses Medizinprodukt wurde in der Schweiz erforscht, entwickelt und wird sogar hier produziert.

Warum darf es dann in der Schweiz nicht eingesetzt werden?

Wegen der bürokratischen EU-Regulierung hat die Firma zuerst eine FDA-Zulassung beantragt und auch erhalten. Das war im Jahr 2018. Während in den USA die Patientinnen und Patienten bereits seit bald fünf Jahren von diesem grossartigen Produkt profitieren, ist das Verfahren zur Anerkennung in Europa aber noch am Laufen. Das ist doch absurd!

Salopp gesagt: Mit Kartoffeln können wir uns selbst versorgen. Warum nicht auch bei Medikamenten oder Medizinprodukten?

Kartoffeln zu produzieren, ist einfacher als Medikamente oder Medizinprodukte, wo wir auf Importe angewiesen sind. Bei den Medikamenten fängt es bereits bei den Wirkstoffen an. Dort gibt es laut einer amerikanischen Studie für ein Drittel aller Wirkstoffe weltweit jeweils nur einen einzigen Hersteller. Fällt jetzt dieser Wirkstoff weg, wirkt sich das sofort negativ auf die Verfügbarkeit all derjenigen Medikamente aus, die diesen Wirkstoff benötigen.

Und wie ist es bei den Medizinprodukten?

Bei den Medizinprodukten reden wir von 500 000 verschiedenen Produkten, im Unterschied zu circa 8000 Arzneimitteln. Wollten wir uns selbst mit Medizinprodukten versorgen, spricht schon die Menge und die Vielfalt dagegen. Und wertmässig holen wir rund 50 Prozent der benötigten Medizinprodukte aus dem Ausland.

Wenn es keine Lösung ist, die gesamte Wertschöpfungskette wichtiger Güter zurück ins Land zu holen, wie soll das Problem dann gelöst werden?

Grundsätzlich unterstütze ich Offenheit und Diversifizierung, statt Abschottung und Autarkie. Das Problem zum Beispiel bei den Medizinprodukten ist aber nicht, dass wir uns nicht selbst versorgen können. Viele Länder können das nicht.

Wo liegt dann das Problem?

Es ist nicht die Abhängigkeit vom Ausland, wie es den Anschein erwecken mag. Es liegt vielmehr daran, dass wir nur Medizinprodukte vom europäischen System anerkennen. Das müssen wir ändern.

Und wie soll das gehen?

Weniger abhängig sein, heisst für mich: Diversifizieren. Und das ist keine Hexerei! Das Parlament hat dem Bundesrat mit Überweisung meiner Motion «Für mehr Handlungsspielraum bei der Beschaffung von Medizinprodukten» bereits im November 2022 einen entsprechenden Auftrag erteilt.

Was fordern Sie konkret mit Ihrem Vorstoss?

Der Bundesrat muss das nationale Recht so anpassen, dass die Schweiz nebst Medizinprodukten mit dem europäischen CE-Kennzeichen auch Medizinprodukte aussereuropäischer Regulierungssysteme mit vergleichbar strengen Anforderungen anerkennt, insbesondere Medizinprodukte, die von der FDA (Food and Drug Administration) für die USA zugelassen werden.

Während der Parlamentsdebatte haben sich Gesundheitsminister Alain Berset sowie die zuständigen Gesundheitsbehörden vehement gegen Ihre Motion gewehrt. Was passiert, wenn sie liegen bleibt?

Der Auftrag des Parlaments an die Regierung ist verpflichtend. So will es die Gewaltentrennung. In der Realität sieht es tatsächlich oft anders aus. Aufträge, die den zuständigen Behörden nicht genehm sind, werden verschleppt.

Könnte das auch diesmal passieren?

Ich will den Teufel nicht an die Wand malen. Vorerst vertraue ich darauf, dass der Gesundheitsminister die Dringlichkeit des Auftrags anerkennt. Wie gesagt: Es ist keine Hexerei, diesen umzusetzen. Vielmehr ist es eine Frage des Willens. Ich wünsche mir, dass die Behörden ernsthaft mit der Medtech-Branche und den Gesundheitsakteuren zusammenarbeiten und den Auftrag zügig und pragmatisch umsetzen.

Die Kostenexplosion im Gesundheitswesen führt ebenfalls zu Diskussionen. Was sagen Sie dazu?

Meiner Meinung nach leiden wir vielmehr an einer Regulierungs- und Bürokratieexplosion. Seit 2019 wurden allein auf Bundesebene mehr als 500 gesundheitsbezogene, parlamentarische Vorstösse eingereicht, dabei sind jene zur Covid-Pandemie nicht einmal mitgerechnet.

Wollen Sie nicht über Kosten reden?

Doch, selbstverständlich. Aber nicht isoliert von Leistung und Qualität. Es muss ein Paradigmenwechsel statt finden, wenn wir das Gesundheitswesen weiterentwickeln wollen. Der Kostenröhrenblick und das Denken in Silos sind veraltet. Wir müssen den gesamten Behandlungspfad betrachten. Und da stellt sich die entscheidende Frage: Welchen Wert schafft das Gesundheitswesen pro investierten Franken und Personaleinheit aus Patientensicht.

Heisst das: Die Ressourcen müssten maximiert werden?

Genau, das ist es! Und genau darum muss es auch in einem solidarisch und kollektiv finanzierten System mit grossem Fachkräftemangel gehen. Mag sein, dass das ökonomisch tönt, aber dennoch ist exakt dieser Ansatz patientenzentriert. Würden sich die medizinischen Leistungserbringer in Praxen, Spitälern, Heimen, Reha-Kliniken etc. und die Kostenträger, also die Krankenversicherer und Kantone, an diesem Wert für die Patientin und den Patienten orientieren, kämen wir einen guten Schritt voran.

Ist es aber nicht auch so, dass die eigenen Taschen sehr oft am nächsten liegen?

Aus diesem Grund ist es wichtig, finanzielle Fehlanreize aus dem System zu nehmen und im Gegenzug finanzielle Anreize im System zu schaffen, welche die Patientenperspektive erhöhen.

Können Sie das konkretisieren?

Führt ein Orthopäde eine Knieoperation durch, verdient er Geld. Verzichtet er darauf zugunsten einer konservativen Physiotherapie, verliert er Geld. Wenn ein Arzt umso mehr verdient, je mehr Operationen er durchführt, ist das ein Fehlanreiz im System und nicht zum Guten für die Patienten. Die Frage müsste doch sein: Welches ist die optimale Behandlung für den Patienten?

Und wie sieht hier Ihre Lösung aus, um aus diesem Teufelskreis herauszukommen?

Fehlanreize wie «Je mehr Operationen, desto höher der Lohn» müssen aus dem System genommen werden und Anreize richtig gesetzt werden. So sollten zum Beispiel auch diejenigen Leistungserbringer sachgerecht vergütet werden, die durch Prävention Kosten verhindern. Wird eine chronische Krankheit wie Diabetes gut behandelt, können zum Beispiel viele teure Spitalaufenthalte verhindert werden.

Was halten sie von einer ganzheitlichen Medizin, wo die Schulmedizin beispielsweise gerade bei der von Ihnen angesprochenen Prävention mit der Komplementärmedizin zusammenarbeiten könnte?

Ich halte eine medizinische Versorgung, bei der ein Patient von der Prävention über allfällige Behandlungen begleitet wird und die verschiedenen Leistungserbringer untereinander im Austausch sind, für sehr sinnvoll. Und eine medizinische Leistung – egal, in welchem Bereich der Medizin sie erbracht wird – muss in jedem Fall wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich sein, damit unser Gesundheitswesen finanzierbar bleibt.

Kosten, Leistung und Qualität müssen also übereinstimmen. Wie wird denn die Qualität gemessen?

Wir brauchen Daten, Daten und nochmals Daten. Und zwar nicht auf einem Datenfriedhof, sondern Daten, mit denen gearbeitet wird. Deshalb ist Transparenz ein weiterer wichtiger Pfeiler. Nur so ist Qualitätswettbewerb überhaupt möglich.

Was kann die Bevölkerung tun?

Mithelfen. In anderen Ländern, etwa in Israel, ist die Datenspende so selbstverständlich wie die Blutspende. In einem System, das solidarisch finanziert ist, darf auch in diesem Punkt Solidarität erwartet werden.

Wie beurteilen Sie das Potenzial bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens?

Da sehe ich ein grosses Potenzial. Und wir werden es nutzen müssen, anders geht es gar nicht. Die Menschen werden immer älter. Dem gegenüber steht ein Fachkräftemangel. Das Luzerner Kantonsspital hat zum Beispiel ein Pilotprojekt für chronisch Kranke mit Herzinsuffizienz initiiert, die im Stil «Hospital at Home» von der Ferne überwacht werden. So lassen sich viele Spitaltage einsparen.

Welche Chancen räumen Sie der künstlichen Intelligenz im Gesundheitswesen ein?

Die Medizintechnik spielt ganz allgemein eine zentrale Rolle bei der Digitalisierung. Was die künstliche Intelligenz betrifft: Da lassen sich beispielsweise die Abläufe in einem Operationssaal schon heute optimieren.

Im Gesundheitswesen spricht man ebenfalls immer wieder von Reformen. Welche sollte schleunigst umgesetzt werden?

Diejenige, die pfannenfertig vorliegt.

Und das wäre?

Das Tarifwerk TARDOC liegt seit vier Jahren in der Schublade von Bundesrat Alain Berset. Er ist zwar nicht perfekt, aber unbestritten viel besser als der heillos veraltete TARMED, der längst nicht mehr die aktuelle Situation im ambulanten Bereich abbildet. Eine weitere wichtige Reform ist die EFAS, die einheitliche Finanzierung von ambulanten und stationären Leistungen.

Wie sieht diese Finanzierung im Moment aus?

Stationäre Leistungen, davon spricht man, wenn die Patienten im Spital übernachten, werden von den Krankenversicherern mit 45 Prozent und von den Kantonen mit 55 Prozent getragen. Demgegenüber ist die Finanzierung bei ambulanten Leistungen, da werden die Patienten in der Arztpraxis oder im Spital behandelt und gehen danach wieder nach Hause, so geregelt, dass die Kosten zu 100 Prozent über die Krankenversicherungsprämien laufen. Das ist ein grosser Fehlanreiz im System.

Weshalb?

Weil der Entscheid über eine Behandlung aus medizinischer und patientenorientierter Sicht getroffen werden sollte. Er darf nicht von Finanzströmen beeinflusst sein.

Wie beurteilen Sie die einheitliche Finanzierung EFAS – kommt sie?

EFAS geht zurück auf einen Vorstoss mit dem Titel «Finanzierung der Gesundheitsleistungen aus einer Hand. Einführung des Monismus» von alt Nationalrätin Ruth Humbel aus dem Jahr 2009! Die Zeit dafür ist überreif. Die Reform muss beschlossen und anschliessend rasch umgesetzt werden – und zwar im Sinne des Textes.

Betroffen im negativen Sinn sind von solchen «Spielchen» letztlich immer auch die Versicherten mit ihren Prämien. Warum dauert alles so lange – hier mittlerweile bald ein Vierteljahrhundert?

Mir scheint es Taktik der Gegnerschaft zu sein, die Vorlage dermassen überladen zu wollen, dass sie am Ende scheitert. Das darf nicht passieren. Ich bin dezidiert der Meinung, dass eine Splittung der Rechnungen fernab von der ursprünglichen monistischen Idee ist. Eine Splittung würde die Bürokratie erhöhen, das Chaos wäre vorprogrammiert.

Die vergangenen Legislaturen waren gesundheitspolitisch eigentliche Kostendämpfungspaket-Legislaturen, die den Anstieg der Krankenkassen-Prämien aber trotzdem nicht zu verhindern vermochten. Sehen Sie das auch so?

Ja, leider. Bundesrat Alain Berset treibt mit seinen Paketen vor allem jene Geschäfte voran, die in Richtung Verstaatlichung des Gesundheitswesens gehen.

Mit dem Rücktritt von Bundesrat Alain Berset geht automatisch ein Wechsel an der Spitze des EDI einher. Was wünschen Sie sich von der neuen Departementsführung für unser Gesundheitswesen?

Einen Paradigmenwechsel, bei dem Kosten nicht isoliert von Leistung und Qualität betrachtet werden. Wir brauchen keinen staatlichen Dirigismus, sondern mehr Rahmenbedingungen, die den Qualitätswettbewerb fördern. Ich erhoffe mir zudem, dass die neue Departementsführung eine enge und konstruktive Zusammenarbeit mit den Gesundheitsakteuren für unabdingbar hält.