Bürokratie behindert Eltern bei der Betreuung ihrer kranken Kinder
- 17. März 2023
- 8 min Lesezeit
Immer wieder berichten betroffene Eltern über ihre schlechten Erfahrungen mit dem neuen Gesetz, zuletzt im «Kassensturz». Ob eine Entschädigung bezahlt wird, hängt vom beurteilenden Arzt oder der Ausgleichskasse ab, welche die Kriterien sehr differenziert auslegen. Das führt dazu, dass sehr ähnliche Fälle ganz unterschiedlich beurteilt werden. Nicht einmal zehn Prozent aller Berechtigten haben bisher eine Entschädigung erhalten.
Beitrag und Interview zur Betreuungsentschädigung in den Luzerner Landzeitungen von Ernesto Piazza
Der Beitrag
Berufstätige Eltern können rasch an ihre Grenzen gelangen, wenn sie ein schwer krankes Kind betreuen müssen. Zu den Sorgen zur Gesundheit kommt die Unsicherheit, wer für den Arbeitsausfall aufkommt. Der Bund hat deshalb per 1. Juli 2021 den Betreuungsurlaub eingeführt. Dafür haben mehrere Gründe gesprochen. Einerseits der Fachkräftemangel und die Tatsache, dass immer mehr Frauen erwerbstätig sind. Und anderseits auch, dass insbesondere die Spitäler bei der Betreuung kleinerer Kinder auf die Betreuung durch die Eltern angewiesen sind.
Die Praxis zeigt nun aber, dass die Hürden für den Bezug einer Erwerbsausfallentschädigung zu hoch sind. Eltern haben gemäss Gesetz Anrecht auf bis zu 14 Wochen Lohnentschädigung innerhalb von anderthalb Jahren, wenn sie ihre schwer kranken Kinder oder Jugendlichen betreuen müssen. Um den Zugang zur Entschädigung möglichst einfach zu gestalten, wurde eine vermeintlich unbürokratische Lösung über die Erwerbsersatzordnung (EO) gewählt. Die Taggelder haben sich bei Militärdienst, Zivilschutz und Mutterschaft schliesslich bewährt.
Mit Motion klare Kriterien schaffen
Immer wieder berichten betroffene Eltern über ihre schlechten Erfahrungen mit dem neuen Gesetz, zuletzt im «Kassensturz». Ob eine Entschädigung bezahlt wird, hängt vom beurteilenden Arzt oder der Ausgleichskasse ab, welche die Kriterien sehr differenziert auslegen. Das führt dazu, dass sehr ähnliche Fälle ganz unterschiedlich beurteilt werden. Nicht einmal zehn Prozent aller Berechtigten haben bisher eine Entschädigung erhalten. Für die Eltern heisst das, dass sie Fehlstunden haben, ihr Pensum reduzieren müssen oder sich selbst krankschreiben lassen, wollen sie ihr Kind nicht im Stich lassen.
FDP-Ständerat Damian Müller reichte im letzten Jahr eine Motion für eine Gesetzesänderung ein, die klare Kriterien verlangt. Sein Vorstoss wurde von der kleinen Kammer im vergangenen Herbst gegen den Widerstand des Bundesrats angenommen. Obwohl Gesundheitsminister Alain Berset bestätigte, dass es Probleme gibt, will er abwarten. Der Nationalrat hat in der Frühlingssession auch entschieden, nicht länger zuzuschauen und stimme dem Vorstoss ebenfalls zu.
Das Interview
Damian Müller, wie sind Sie darauf aufmerksam geworden, dass die Betreuungsentschädigung schlecht funktioniert?
Als Politiker werde ich immer wieder auf Missstände aufmerksam gemacht. Als ich im letzten Jahr mit meinem MüllerMobil unterwegs war, wurde ich auch auf die Betreuungsentschädigung angesprochen. Ich kenne die Schicksale diverser Familien und ich habe mich dann mit der Selbsthilfeorganisation Procap in Verbindung gesetzt, um zu erfahren, wieso die Eltern nicht zu ihrem Recht kommen.
Mit welchem Resultat – oder anders gefragt: was läuft mit der Betreuungsentschädigung falsch?
Anspruch auf eine Entschädigung haben Eltern heute nur, wenn sich der Zustand des Kindes oder des Jugendlichen einschneidend verändert hat. Ausserdem muss der Verlauf oder der Ausgang schwer vorhersehbar sein. Deshalb ist das Fazit der Beratungsstellen eindeutig: Die Kriterien für eine Entschädigung sind zu hoch.
Die gesetzlichen Kriterien sind offensichtlich ein Problem. Wo orten Sie konkret Schwachstellen?
Meistens gelten die erwähnten Bedingungen als erfüllt nur bei Kindern mit einer schlechten oder vorhersehbaren Prognose. Es gibt aber auch Kinder, die länger oder mehrmals ins Spital müssen, damit es ihnen danach besser geht. In diesen Fällen wird nun immer wieder gestritten, ob die Kriterien erfüllt sind. Da sage ich ganz klar: Kinder benötigen ihre Eltern in einer Krise – und zwar unabhängig davon, wie die jeweilige Prognose ist.
Worunter leiden die Betroffenen am meisten?
Die Familien sind in solchen Fällen bereits sehr belastet. Manchmal wissen die Eltern während einer längeren Zeit nicht einmal, an welcher Krankheit ihr Kind leidet, weil es eine Weile dauert, bis die richtige Diagnose gestellt wird. Wenn es noch weitere Kinder gibt, sollte das Familienleben aber so normal wie möglich weitergehen. Oft werden die Gesuche für eine Taggeld-Entschädigung nicht oder erst mit grosser Verzögerung bewilligt. Das ist für die Betroffenen zusätzlich zermürbend. Diese Ungewissheit und zusätzlich die Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren, können Existenzängste auslösen.
Kennen Sie konkrete Beispiele?
Bei einem Geburtsgebrechen können erst nach Monaten schwere gesundheitliche Probleme auftreten. Solche Familien bekommen dann zu hören, dass die Krankheit schon bei der Geburt bestanden habe und folglich keine Verschlechterung vorliegt. Oder ein anderes Beispiel: Eltern wird gesagt, dass es ihrem Kind nach einer notwendigen Operation besser gehen werde. Was wiederum bedeutet, dass die Prognose gut ist. In beiden Fällen gibt es kein Geld. Wir haben ein strukturelles Problem, weil die geschilderten Beispiele keine Einzelfälle sind. Die Absicht des Bundes war aber, dass die Familien Arbeit und Betreuung besser vereinbaren können.
Wie kann die Situation für die Eltern verbessert werden?
Ich will für Eltern und Arbeitgeber Sicherheit schaffen. Sie müssen rasch Klarheit haben, ob eine Betreuungsentschädigung gewährt wird. Neben der Sorge um ihr Kind sollen die Eltern sich nicht auch noch Sorgen um die Entschädigung, um Fehlstunden oder sogar um einen möglichen Verlust des Arbeitsplatzes machen müssen. Sie benötigen Gewissheit, dass sie abgesichert sind und sich um ihr krankes Kind kümmern können. Damit würde das Gesetz genauso umgesetzt werden, wie es der Gesetzgeber, also Parlament und Volk, bei der Einführung vor mehr als anderthalb Jahren wollten.
Welche Lösung schlagen Sie vor?
Es soll festgelegt werden, dass ein Kind als gesundheitlich schwer beeinträchtigt gilt, wenn es vier Tage oder länger stationär im Spital sein muss und die Eltern deshalb nicht oder nur noch reduziert arbeiten können.
Welche Überlegungen legen sie diesem Kriterium zugrunde?
Die Anzahl Tage, die ein Kind im Spital verbringen muss, ist ein klares und eindeutiges Kriterium. Damit wird die Prüfung des Gesuchs EO-konform – das ist genauso einfach zu handhaben wie heute bereits bei Militär-, Zivilschutz oder etwa Mutterschaft. Wenn ein Kind länger als drei Tage im Spital sein muss, dann geht es ihm in der Regel schlecht.
Der Bundesrat befürchtet, dass der Kreis der heute theoretisch anspruchsberechtigen Familien von rund 4’500 mit der neuen Gesetzgebung auf 20’000 Familien pro Jahr erweitert und die EO-Kosten erheblich steigen würden. Wie beurteilen Sie dieses Argument?
Das sehe ich nicht so. Die Aussagen des Bundesrates sind irreführend, weil gar nicht 20’000 Familien einen Anspruch haben. Nur wenn ein Kind tatsächlich Betreuung benötigt, gibt es eine Entschädigung. Wie das Bundesamt für Sozialversicherungen ausserdem auf Anfrage mitteilte, belaufen sich die EO-Kosten bisher auf total knapp sieben Millionen Franken und liegen damit klar unter den 74 Millionen jährlich, die der Bund vor der Einführung des Betreuungsurlaubs als Höchstwert angegeben hatte.
Dennoch wollte der Bundesrat erst einmal abwarten. Sie setzen auf eine schnelle Änderung. Warum?
Es wäre zynisch, noch länger abzuwarten. Heute beantragen oder erhalten nicht einmal zehn Prozent der Betroffenen eine Entschädigung, wenn sie ihr Kind betreuen. Häufig stellen die Eltern gar nicht erst einen Antrag, weil die Hürden viel zu hoch sind. Aus diesem Grund und wegen der langen Ungewissheit empfehlen auch die Beratungsstellen zunehmend auf ein Gesuch zu verzichten. Somit ist klar, dass es eine rasche Anpassung braucht.
Eine rasche Gesetzesanpassung nützt vor allem den Familien. Wer würde davon weiter profitieren?
Neben den Familien sind es auch die Spitäler. Denn selbst der Bund hat bei der Beratung des Gesetzes festgehalten, dass ein schwer krankes Kind auf eine enge Betreuung durch mindestens einen Elternteil angewiesen ist. Ausserdem kann die Anwesenheit und Unterstützung der Eltern die Heilung des Kindes positiv fördern. Kommt hinzu, dass es häufig Frauen sind, die ein krankes Kind betreuen. Wenn sie für die Betreuung ihrer kranken Kinder nicht entschädigt werden, nur weil ein gut gemeintes Gesetz nicht funktioniert, können sie für Arbeitgeber als finanzielles Risiko gelten.
Womit wir bei den Arbeitgebern, bei den Unternehmen, wären…
Für ein KMU sind die finanziellen Ausfälle bei einem längeren Spitalaufenthalt kaum kalkulierbar. Werden künftig Entscheide rascher und aufgrund klarer Kriterien gefällt, gibt es auch für den Arbeitgeber mehr Sicherheit. Die Hälfte der Beschäftigten in der Schweiz arbeitet in Mikro- oder kleinen Unternehmen mit weniger als 50 Angestellten. Und ein Viertel aller Beschäftigten ist bei einem Mikro-Unternehmen mit weniger als 10 Mitarbeitenden angestellt.
Das heisst: Diese Firmen leiden ebenfalls extrem unter der aktuellen Situation?
So ist es. Ein längerer Ausfall eines Angestellten kann vor allem bei kleinen Firmen Auswirkungen auf den Betrieb und das Geschäftsergebnis haben. Das Gesetz hilft insbesondere den KMU ein attraktiver Arbeitgeber zu sein, und zwar in allen Regionen.
Sie haben nun mit der von National- und Ständerat angenommenen Motion den Stein entscheidend ins Rollen gebracht. Aus Erfahrung weiss man allerdings, dass politische Mühlen langsam mahlen. Wagen Sie eine Prognose – wie lange dauert es bis betroffene Eltern so einfach wie ursprünglich vorgesehen eine Betreuungsentschädigung erhalten?
Der Bundesrat hat am 1. März den Auftrag erhalten das Betreuungsgesetz zu ändern. Er hat nun zwei Jahre Zeit einen Entwurf vorzulegen. Es ist mir bewusst, dass es für die betroffenen Eltern schwierig ist diese Wartezeit zu ertragen. Aber das Parlament hat gehandelt und setzt sich dafür ein, dass sich nun rasch etwas ändert.