Damian Müller | Ständerat

Wir müssen die Anreize für das Weiterarbeiten nach dem Pensionsalter verbessern

  • 05. Juni 2023
  • 4 min Lesezeit

Wir haben einen sich verschlimmernden Fachkräftemangel. Wir haben aber auch ein grosses und noch nicht ausgeschöpftes Potenzial bei Frauen und älteren Personen. Diese Erwerbstätigen würden mehr oder überhaupt arbeiten, wenn die Rahmenbedingungen passen. Wir müssen die Anreize für das Weiterarbeiten nach dem Pensionsalter verbessern. Zu viele Arbeitswillige scheiden heute nach 65 komplett aus dem Arbeitsmarkt aus oder reduzieren ihre Pensen massiv. Der Bundesrat hat die Dynamik des Fachkräftemangels massiv unterschätzt und muss nun umso entschlossener Gegensteuer geben. Beitrag in der NZZaS vom 4. Juni 2023

Der «grösste Bremsklotz» für die Schweizer Wirtschaft, so klagte der Arbeitgeberverband neulich, sei der Mangel an Fachkräften. Die Zahl der offenen Stellen ist auf rekordhohe 130 000 gestiegen – das sind doppelt so viele wie vor der Pandemie. Vier von zehn Unternehmen haben Schwierigkeiten, genügend Arbeitskräfte zu rekrutieren.

Eine neue Studie, die das Gottlieb-Duttweiler-Institut (GDI) er- stellt hat, warnt vor einer weiteren Verschärfung. Wenn die Wirtschaft im bisherigen Tempo weiterwachse, so könnten im Jahr 2025 bereits 340000 Stellen nicht mehr besetzt werden, bis 2030 wären es gar 800 000. Diese Prognose gilt unter der Annahme, dass keine ausländischen Arbeitskräfte zuwandern. Doch selbst wenn das Szenario des Bundes eintritt und pro Jahr 40 000 bis 70 000 Personen in die Schweiz ziehen, lässt sich die Lücke bei weitem nicht schliessen.

«Der Bundesrat hat die Dynamik des Fachkräftemangels massiv unterschätzt», kritisiert der Luzerner FDP-Ständerat Damian Müller. «Umso entschlossener muss er jetzt gegensteuern. Denn wir haben in der Schweiz ein riesiges Reservoir an top ausgebildeten Erwerbstätigen, das wir kaum nutzen.» Im Visier hat Müller die über 65-Jährigen. Viele wären gewillt, in einem reduzierten Pensum weiterzuarbeiten. Effektiv aber, das zeigt die GDI-Studie, ist die Erwerbsquote bei den über 65-Jährigen rückläufig – obwohl der Anteil der gesundheitlich fit- ten Pensionäre gestiegen ist.

AHV-Beitrag als Steuer

«Anstatt den beruflichen Einsatz von Rentnern finanziell zu belohnen, schröpfen wir sie mit unsinnigen Abgaben», erklärt Müller. Stossend sei insbesondere, dass sie weiterhin Beiträge an die AHV bezahlen müssen, obwohl ihre Rente nicht mehr ansteigt. De facto handle es sich um eine zusätzliche Steuer. Diese Woche hat der Politiker daher eine Motion gegen diese Benachteiligung eingereicht.

Die Motion nimmt Bezug auf einen Artikel der «NZZ am Sonntag» vom letzten Dezember. Darin wurde erstmals beziffert, wie viel Geld erwerbstätige Rentner an die Sozialversicherungen AHV, IV und EO entrichten, ohne eine Gegenleistung zu erhalten: 600 Mio. Fr. pro Jahr. Die umstrittene Beitragspflicht existiert seit dem Jahr 1979.

Eigentlich, so Müller, wäre es gerecht, diese vollständig abzuschaffen. Um die politischen Chancen zu steigern, schlägt er in seiner Motion einen Mittelweg vor: Konkret will er den Frei- betrag von heute 16 800 Fr. im Jahr auf 36 000 Fr. anheben. Bei einem Jahreslohn von 100 000 Fr. wären somit nur noch 64 000 Fr. AHV-pflichtig.

«Ich halte eine solche Anhebung der Freigrenze für mass- voll und absolut gerechtfertigt», sagt auch der St. Galler Vorsorge- experte und ehemalige National- rat Andreas Zeller. Denn seit 1996 sei dieser Betrag nicht mehr an die Teuerung angepasst worden. «Ein solcher Schritt würde den Anreiz, nach 65 zu arbeiten, deutlich erhöhen.»

Beliebte Minipensen

Eine Studie des Staatssekretariats für Wirtschaft bestätigt diese Einschätzung. Demnach arbeitet heute jeder dritte erwerbstätige Rentner in einem Minipensum von weniger als 20%. Nur eine Minderheit wählt eine Beschäftigung von über 50%. Es gebe «deutliche Hinweise», so die Analyse, dass die Freigrenze einen Einfluss auf das bevorzugte Arbeitspensum habe.

Mit der Reform AHV 21, welche nächstes Jahr in Kraft tritt, verspricht der Bundesrat zwar eine Besserstellung der Erwerbstätigen über 65. Neu sollen die AHV- Beiträge dieser Altersgruppe rentenbildend sein. «Allerdings sind die Kriterien so restriktiv gewählt, dass nur etwa jede zehnte Person davon profitieren kann», sagt Zeller. «Im Wesentlichen sind es jene, welche Lücken bei den Beitragszahlungen aufweisen.» Bei 90% der Schweizer Rentner sei dies nicht der Fall.

Mit seiner Motion zielt Damian Müller noch auf einen zweiten Bereich: den Vorbezug der AHV. Heute lässt sich die Rente bis zu zwei Jahre früher beziehen – als Mann folglich ab 63. Im Gegenzug wird der Betrag um 13,6% reduziert. Nun hat der Bund aber an- gekündigt, dass er diese Kürzung ab 2027 massiv senken will. Künftig würde die AHV trotz Vorbezug nur um 7,7% abnehmen.

«Ich halte einen solchen Schritt für absurd», sagt der FDP-Ständerat. «Trotz Fachkräftemangel will der Bund den Anreiz erhöhen, vorzeitig in Pension zu gehen. Zu- dem entstehen für die AHV enorme Mehrkosten.» Müller beziffert die zusätzliche Belastung auf rund 300 Mio. Fr. pro Jahr. Er verlangt daher, die heutigen Kürzungssätze zumindest unverändert zu lassen oder im Gegenteil anzuheben.

«Unsere Einstellung zur freiwilligen Weiterarbeit nach 65 muss sich dringend ändern», sagt Damian Müller. «Denn die Pensionierungswelle der Babyboomer hat erst begonnen.» Allein bis zum Ende dieses Jahrzehnts erreichen 788000 Personen das 65. Altersjahr – und gehen damit für den Arbeitsmarkt verloren. «Die Erhöhung der AHV-Freigrenze wäre ein kleiner, aber wichtiger Schritt, um von der heutigen fixen Altersguillotine wegzukommen», betont der Luzerner Ständerat. Und ergänzt: «Leider hat die Politik die Tragweite dieser Entwicklung völlig verschlafen.»